Nach dem Ende des Kalten Krieges rutschte die Diskussion um atomare Abrüstung an den Rand der Weltpolitik. Niemand fürchtete mehr einen atomaren Showdown zwischen den USA und Russland. Nukleare Rüstungskontrolle erinnerte an Reagan und Breschnew, aber nicht an die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Heute besteht eine neue Lage. Das iranische Atomprogramm, die Krise um die atomare Aufrüstung Nordkoreas, die drohende Rüstungsspirale zwischen China, Indien und Pakistan haben die Atomwaffenfrage wieder ins Zentrum globaler Sicherheitspolitik gerückt. Vor diesem Hintergrund hat die “Global Zero“ - Initiative der jeder pazifistischen Schwärmerei unverdächtigen Altvorderen Kissinger, Shultz, Perry und Nunn den Scheinwerfer wieder auf die Abrüstungsverpflichtungen der etablierten Atommächte gerichtet. US-Präsident Obama nahm den Ball auf und vereinbarte mit der russischen Führung die Wiederaufnahme von Verhandlungen zur Reduktion strategischer Atomwaffen.
Die Zeit drängt. Das weltweite Waffenkontrollsystem steht auf der Kippe. Im Frühjahr kommenden Jahres wollen die Unterzeichnerstaaten des Vertrags zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (NVV) zusammenkommen, um zu retten, was noch zu retten ist. Die Vorverhandlungen gestalten sich zäh. Ob die amerikanisch-russischen Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen zur Begrenzung ihrer nuklearen Arsenale (START-Vertrag) tatsächlich zu einer substanziellen Abrüstung führen werden, ist noch offen. Parallel arbeiten beide Seiten an der Perfektionierung ihrer nuklearen Waffensysteme. Auch Obamas Angebot, den Atomwaffenteststopp¬vertrag endlich zu ratifizieren, wird eher als überfälliger Schritt denn als strategische Wende gewertet. Ohne verbindliche Selbstverpflichtung der atomaren Großmächte, ihre atomaren Arsenale abzubauen, droht der Damm der atomaren Nichtweiterverbreitung vollends zu brechen. Die Folge wäre ein nuklearer Rüstungswettlauf vor allem im Nahen und Mittleren Osten, inmitten der konfliktträchtigsten Krisenregion der Weltpolitik.
Atombombe als Lebensversicherung?
Trotz verbaler Sympathiebekundungen für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt deutet wenig darauf hin, dass Atomwaffen ihre Attraktivität als politische und militärische Trumpfkarte verloren haben, im Gegenteil. Für neu aufsteigende Mächte wie China und Indien scheint die Atombombe eine Maßeinheit für ihr politisches Gewicht zu sein. Das gilt auch für Russland, das seinen Großmachtstatus auf seine Energieressourcen und seine Atomstreitmacht gründet. Wie stark Russland noch den Kategorien eines „Gleichgewichts des Schreckens“ verhaftet ist, zeigt sich auch in der harschen Reaktion auf die amerikanischen Pläne zur Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Mittel-Osteuropa. Russland verteidigt eisern das Prinzip der „mutual assured destruction“ und wehrt sich gegen amerikanische Pläne, die zur Entwertung seines atomaren Arsenals führen könnten.
Auch als Kompensation für konventionelle Unterlegenheit haben Atomwaffen nicht ausgedient: Sie sollen dazu dienen, einen militärisch überlegenen Gegner vom Leib zu halten. Das macht sie gerade für Staaten interessant, die sich auf Kollisionskurs mit einer Großmacht befinden.
Das unterschiedliche Schicksal des Irak und Nordkoreas dürfte die nuklearen Begehrlichkeiten anderer Staaten eher noch verstärkt haben. Während das Regime Saddam Husseins ohne viel Federlesens durch eine amerikanische Invasion gestürzt wurde, beeilte sich Kim Jong-Il mit der Nachricht, Nordkorea verfüge bereits über ausreichend atomwaffenfähiges Material und führte die entsprechenden Trägersysteme vor. Die Atombombe ist für die nordkoreanischen Machthaber sowohl ein Schutzschild, ein Drohpotenzial gegenüber ihren Nachbarn und ein Mittel, diplomatische und finanzielle Zugeständnisse zu erpressen – eine wahre Allzweckwaffe.
Dient die Atombombe in der neuen, multipolaren Welt also vor allem als Rückversicherung vor militärischen Interventionen? Auch dem Iran wird nachgesagt, sich mittels der Bombe gegen einen bewaffneten Regimesturz durch die Vereinigten Staaten wappnen zu wollen. Das mag zutreffen. Die Frage ist aber, ob nicht noch ganz andere Motive im Spiel sind. Die Verfügung über Atomwaffen würde die Ambitionen des Iran als Vormacht im Mittleren Osten unterstreichen. Gleichzeitig könnte das Regime seinerseits eine aggressive Veränderung des regionalen Status quo betreiben, ohne militärische Sanktionen befürchten zu müssen. Gefährdet ist insbesondere Israel - weniger durch einen direkten nuklearen Angriff aus dem Iran, sondern durch fortgesetzte Attacken von Hizbollah, Hamas & Co, die mit Rückendeckung des Iran operieren und von dort mit Raketen ausgerüstet werden. Aber auch für Saudi-Arabien und die Golfstaaten ist die Aussicht auf eine iranische Atombombe höchst beunruhigend. Ein nukleares Wettrüsten wäre vorprogrammiert.
Eine Aufrüstungsspirale droht auch zwischen Pakistan und Indien. Während nicht nur der Westen von der Sorge geplagt ist, Pakistans Atomwaffen könnten in die Hände von Islamisten geraten, sieht sich die politische Elite des Landes durch die militärische Dominanz Indiens herausgefordert und sucht den strategischen Schulterschluss mit China, das den Aufstieg Indiens zur nuklearen Großmacht ebenfalls mit Missvergnügen betrachtet. Gleichzeitig spiegelt der indisch-amerikanische Nukleardeal das Dilemma, wie mit der Atomrüstung von Staaten umzugehen ist, die sich außerhalb des Nichtweiterverbreitungs-Vertrags bewegen. Eine Politik unterschiedlicher Maßstäbe, die gegenüber dem einen Staat akzeptiert, was dem anderen verwehrt wird, untergräbt letztlich das gesamte Gebäude.
Selbst in Südamerika gibt es Signale für ein neu erwachtes Interesse an der nuklearen Option. Das gilt vor allem für Brasilien, das sich anschickt, seinen Status als regionale Großmacht auch militärisch zu untermauern. Nicht zuletzt ist damit zu rechnen, dass terroristische Netzwerke nach atomwaffenfähigem Material streben, um mit „schmutzigen Bomben“ ganze Staaten destabilisieren zu können.
Nukleare Anarchie ist kein fernes Horrorszenario mehr
In der multipolaren Welt könnten diese Entwicklungen außer Kontrolle geraten. Die Gefahr einer nuklearen Anarchie ist kein fernes Horrorszenario mehr, sondern im Bereich des Möglichen. Sie wird noch befördert durch das neu erwachte Interesse vieler Staaten an der Atomenergie. Es ist zu vermuten, dass es dabei auch um die Option geht, das technische Know-how und das nukleare Material für die Atombombe zu erlangen. So oder so ist eine strikte Trennung zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Atomtechnik eine Fiktion. Eine vollständige Kontrolle über den nuklearen Brennstoffkreislauf ist kaum zu gewährleisten. Und ob es zu einem Verbot der Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial kommen wird, ist fraglich. Wer unter Berufung auf den Klimaschutz den Ausbau der Atomenergie befördert, riskiert damit auch die Ausbreitung der Atombombe.
Die Verhandlungen zwischen den USA und Russland über den START-Folgevertrag sind wichtig, um eine neue Dynamik atomarer Abrüstung einzuleiten. Aber sie können nur der erste Schritt sein. Die Zukunft des Nichtweiterverbreitungs-Regimes hängt davon ab, ob es der internationalen Staatengemeinschaft gelingt, auf diplomatischem Weg die Atomprogramme im Iran und Nordkorea zu stoppen. Schließlich darf es auch keinen konventionellen Rüstungswettlauf geben, sonst ist die Logik atomarer Abschreckung nicht zu durchbrechen. Auch hier müssen die Vereinigten Staaten und Russland vorangehen.
Was muss Deutschland tun?
Die Bundesrepublik Deutschland hat zu Zeiten der Blockkonfrontation einen wichtigen Beitrag zur Abrüstung geleistet. Dies war auch ein Verdienst der Friedensbewegung. An dieser Tradition können wir anknüpfen. Ein lohnendes Thema ist der Abzug aller taktischen Atomwaffen aus Europa als Eckstein für eine neue europäische Sicherheitsordnung. Das sollte Gegenstand von Verhandlungen zwischen der NATO und Russland werden. Darüber hinaus muss Deutschland einen aktiveren Part bei der Vorbereitung der NVV-Überprüfungs-konferenz übernehmen. Angesichts der immer noch intensiven Handelsbeziehungen mit dem Iran im Technologiesektor hat die Bundesrepublik eine große Verantwortung im Konflikt um das iranische Atomprogramm. Auch hier geht es um ein Rennen gegen die Zeit. Deshalb müssen erweiterte Angebote auf politische und ökonomische Kooperation mit erweiterten Sanktionen verbunden werden, um den inneren und äußeren Druck auf das iranische Regime zu erhöhen. Die Bundesregierung sollte ihre guten Beziehungen zu Moskau und Peking nutzen, um ein konzertiertes Vorgehen der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber dem Iran zu befördern. Gelingt das nicht, ziehen schwere Wetter auf.
Ralf Fücks ist Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung.
Dieser Artikel ist zunächst auf SpiegelOnline erschienen.